Die Herrlichkeit des Herrn Jesus als König Israels

Vor diesem dunklen Hintergrund, den wir in den Versen 9–11 vor uns hatten, schenkt Gott jetzt seinem Sohn noch einmal, dass etwas von seiner Herrlichkeit öffentlich bezeugt wird. In diesem letzten öffentlichen Auftreten des Herrn Jesus wird deutlich, wie Gott dafür sorgt, dass seinem Sohn noch einmal eine gewisse Ehre zuteilwird, dass etwas von seiner Herrlichkeit deutlich wird. Nachdem wir in der Auferweckung des Lazarus seine Herrlichkeit als Sohn Gottes vor uns hatten, kommt in diesem Abschnitt nun seine Herrlichkeit als Sohn Davids vor uns. Es liegt Gott am Herzen, seinem Sohn diese Ehre zu geben, als König in Jerusalem einzuziehen.

Wir finden in den Evangelien zweimal, dass Gott seinem Sohn, dem Verworfenen, eine große Ermunterung auf dem Weg gibt. Es ist zum einen die Szene auf dem sogenannten Berg der Verklärung, die in den ersten drei Evangelien berichtet wird (s. Mt 17,1–8; Mk 9,1–8; Lk 9,28–36). Da hat Gott etwas getan. Einige der Jünger sollten den Sohn des Menschen kommen sehen in seinem Reich. Gott schenkte es seinem Sohn, dass Er hier auf der Erde sichtbar verherrlicht wurde – ein vollkommenes Vorausbild auf den Beginn des Tausendjährigen Reiches. Petrus schreibt später in seinem zweiten Brief sehr deutlich, dass diese Szene ein Hinweis auf die Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus ist (s. 2. Pet 1,16- 18). Dann wird Er von zwei Personengruppen begleitet werden, die in Mose und Elia vorgebildet werden. Mose steht für all die Gläubigen, die vor dem Kommen des Herrn durch den Tod gegangen und auferweckt worden sind, die entschlafenen Heiligen, die mit Ihm gebracht werden (s. 1. Thes 4,14). Elia dagegen ist einer der beiden Gläubigen des Alten Testaments, die ohne zu sterben in den Himmel entrückt wurden. Er ist ein Bild der Gläubigen, die beim Kommen des Herrn lebendig entrückt werden. In Mose und Elia sehen wir also die Gesamtheit aller Gläubigen repräsentiert, die mit dem Herrn Jesus erscheinen werden. Und neben diesen beiden Gruppen von Gläubigen auf dem Berg der Verklärung waren auch noch die drei Jünger zugegen. Sie stehen für den zukünftigen gläubigen Überrest der Juden, der nach der Entrückung der Gläubigen hier auf der Erde zum Glauben kommen wird und den Herrn Jesus als seinen Messias annehmen wird. Gott, der Vater, hat seinem Sohn als Menschen auf der Erde diesen Moment der Verherrlichung vorweg geschenkt, den Er dann, wenn Er mit den Gläubigen erscheinen wird, in Vollendung erleben wird.

Die zweite Begebenheit haben wir jetzt in den kommenden Versen vor uns. Hier wird Ihm Ehre von Menschen, von seinem Volk, gegeben. Immer wieder wird uns in den Evangelien ein kleiner Überrest gezeigt, der aufrichtig auf den verheißenen Herrn wartete (z. B. Zacharias und Elisabeth, Anna oder Simon in Lk 1 und 2, oder auch die Jünger oder die Geschwister in Bethanien, Joseph von Arimathia, Nikodemus). Sie alle waren zum Glauben an den Herrn Jesus als Messias gekommen. Dieser Einzug in Jerusalem wird in den Psalmen beschrieben (s. z. B. Ps 24,7–10).

Die Herrlichkeit des Sohnes Gottes, die in der Auferweckung des Lazarus erwiesen wurde, ist der Ausgangspunkt dafür, jetzt die Herrlichkeit des Sohnes Davids als König Israels zu zeigen. Nur im Johannes-Evangelium wird das so gezeigt.

„Am folgenden Tag, als eine große Volksmenge, die zu dem Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem komme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus, ihm entgegen, und riefen: Hosanna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (V. 12.13).

Wenn wir in Vers 1 den Sabbat vor uns hatten, ist der folgende Tag in diesem Vers der Sonntag. Nicht die Jünger sind die handelnden Personen, die dem Herrn Jesus diese Ehre erweisen, sondern es ist die Volksmenge, die diese Palmzweige nimmt und dem Herrn entgegengeht und Ihm dieses Hosanna zuruft. Niemand von ihnen achtet den Befehl, den die Hohenpriester und Pharisäer in Johannes 11,57 gegeben hatten.

Diese einzigartige Szene wirft jedoch die Frage auf, wie es eigentlich dazu kommt, dass die Volksmenge hier dem Herrn Jesus zujubelt und Ihn als König empfängt. Es war bekannt, dass die religiösen Führer Ihn gefangen nehmen wollten. Was die Juden hier in Jerusalem taten, war hochgradig gefährlich für sie, denn sie stellten sich gegen die religiöse Führerschaft. Die Antwort kann eigentlich nur lauten, dass Gott wollte, dass sie dieses Zeugnis ablegten, damit offenkundig wurde, wer derjenige war, der da in Jerusalem einzog. Gott ist hinter der Szene wirksam.

Gott wollte andererseits auch, dass den Bewohnern von Jerusalem ein sehr deutliches Zeugnis davon gegeben wurde, dass der, der jetzt hier einzieht, der Messias des Alten Testaments ist. Sie müssen dieses Zeugnis bekommen, denn sie werden schon bald vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie diesen König annehmen oder verwerfen wollen. Wie erschütternd, dass sie gerade im Johannes-Evangelium wenige Tage später ausrufen: „Wir haben keinen König als nur den Kaiser“ (Joh 19,15)! Aus dem Verhör des Pilatus wird zudem deutlich, dass dadurch, dass der Herr von seinem Volk als ihr König verworfen wurde, Er in Zukunft nicht nur König Israels sein wird, sondern König über die ganze Erde (vgl. in Joh 18,33- 37 den Wechsel von „König der Juden“ zu „ein König“).

Das erste der beiden Zitate in diesem Abschnitt aus dem Psalm 118 wird von der Volksmenge zitiert. Es spricht von der zukünftigen Zeit, wo der Herr Jesus als der König seines irdischen Volkes wiederkommen wird. Die Menschen müssen ein Empfinden dafür gehabt haben, was für eine große Szene sich hier vor ihren Augen ereignet. Offenbar begegnen sich hier zwei Menschenmengen: Die einen kommen aus Jerusalem heraus und gehen dem Herrn entgegen; und die anderen waren zu Ihm nach Bethanien gekommen, um auch den auferweckten Lazarus zu sehen, und sie waren dann mit Ihm und seinen Jüngern nach Jerusalem gezogen (s. V. 11.17).

Es ist bemerkenswert, dass die Volksmenge ausruft, dass der Herr „im Namen des Herrn“ – des JAHWE des Alten Testaments – kommt. Sicher waren sie von einem gewissen Enthusiasmus bewegt; aber dass sie es aussprechen, macht sie unentschuldbar für das, was sie später im Blick auf Ihn ausrufen: „Hinweg, hinweg! Kreuzige ihn!“ (Joh 19,15). Dieser begeisterte Ausruf der Volksmenge hier wird später zu einer Anklage gegen sie selbst. Sie hatten nicht nur ihren König verworfen, sondern in der Verwerfung des Königs auch den JAHWE, Gott selbst, verworfen. Niemand konnte sich damit entschuldigen, dass er nicht gewusst hätte, wer Er war. Was für eine ungeheure Last von Schuld haben sie damit auf sich geladen.

Sie hatten denjenigen wissentlich weggetan, den sie als Messias erkannt hatten (s. Dan 9,26). Gott hat das zugelassen, eigentlich sogar selbst abgeschnitten und geschlagen (s. Sach 13,7; Jes 53,8). Das Volk konnte den Messias nicht abschneiden, es war Gott. Das Schlagen des Hirten diente nicht der Sühnung von Sünden, sondern zum Wegtun des Messias. Der Messias wurde für eine Zeit durch Gott beiseitegesetzt; Gott unterbrach seine einzigartige Beziehung zu seinem Volk, die in einem auf der Erde lebenden Messias bestand. Und die Folge davon war die Zerstreuung Israels, nachdem sie den Herrn verworfen haben und Gott Ihn geschlagen hat, Ihm sein Anrecht als Messias nicht hat zur Erfüllung kommen lassen.

Matthäus zeigt uns, dass die Juden den Herrn Jesus noch einmal mit genau diesen Worten begrüßen werden, wenn Er wiederkommen und von ihnen als der Messias anerkannt werden wird (s. Mt 23,39). Dann wird sich auch erfüllen, was hier in den Palmzweigen angedeutet wird, ein Hinweis auf die tausendjährige Segensherrschaft im Bild des Laubhüttenfestes (s. 3. Mo 23,34.39.40). Die Palmzweige haben also einen Charakter, der deutlich auf das Tausendjährige Reich hinweist.

Diese Szene hier zeigt uns also, dass der Herr mit allem Recht im Begriff steht, sein Reich anzutreten. Welche Herrlichkeit für Ihn! Aber das Tragische ist, dass sein Volk Ihn ablehnt und verwirft.

„Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: ‚Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, sitzend auf einem Eselsfohlen‘“ (V. 14.15).

Hier stellt sich eine zweite Frage: Warum hat der Herr Jesus dieses begeisterte Willkommen akzeptiert? Als die Volksmenge Ihn in Johannes 6 zum König machen wollte, zog Er sich zurück (s. V. 15). Er hatte nie etwas für seinen eigenen Ruhm oder seine Bekanntheit gemacht. Immer wenn Er merkte, dass man Ihn in den Vordergrund stellen wollte, ging Er weg. Aber hier reagiert Er anders. Er geht nicht weg, sondern setzt sich auf einen jungen Esel. Er nimmt diese Ehrerbietung also an. Warum tut Er das?

Wir können dazu drei Punkte nennen: Zunächst möchte Er das Zeugnis, das Gott über Ihn geben möchte, unbedingt bestätigen. Wenn der Vater den Wunsch hat, den Sohn auf diese Weise zu ehren, dann ist das auch der Wunsch des Herrn Jesus. „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Dann wird mit diesem ehrenden Empfang durch das Volk später auch dokumentiert, wie schuldig sie sich darin machten, ihren eigenen König abzulehnen. Hier wird ja aus Psalm 118,26 zitiert, aber die Juden fügen hier in Johannes 12 etwas hinzu, was dort nicht steht, nämlich der Zusatz: „der König Israels“. Damit erkennen sie wirklich an, dass der Herr Jesus der König ist – und genau diesen König haben sie später abgelehnt. Ein dritter Grund dafür, dass der Herr Jesus diese Ehrerweisung annimmt, sind die Schriften. Er war gekommen, die Schriften zu erfüllen (s. Mt 5,17), und hier wird eine Schrift aus dem Propheten Sacharja erfüllt (s. Sach 9,9). Auch andere Stellen aus dem Alten Testament werden hier erfüllt, z. B. 1. Mose 49,10.11, wo Vers 10 immer noch zukünftig ist und auf den Zeitpunkt seiner Erscheinung in Macht und Herrlichkeit hindeutet. Aber Vers 11 kann mit dieser Szene bei seinem Einzug in Jerusalem verbunden werden.

Bei der zitierten Stelle in Sacharja 9,9 ist auffallend, dass Sacharja auch von einer zukünftigen Zeit spricht, aber eben nicht ausschließlich. Wir finden ja öfter im Alten Testament, dass Weissagungen, die auch aus heutiger Sicht noch in die Zukunft gehen, schon vorher eine gewisse Teilerfüllung gefunden haben. Auch hier ist das der Fall. Dann stellen wir auch fest, dass es hier in Johannes 12 zu einigen Änderungen der zitierten Stelle kommt. Der Aufruf zur Freude von Sacharja 9,9 fehlt hier, hier wird nur gesagt: „Fürchte dich nicht.“ Konnte hier von Freude die Rede sein, wo man wenig später diesen König ablehnen und kreuzigen würde? Auch wird hier nicht von den Charakterzügen gesprochen, in denen der König kommt – gerecht und rettend. Wenn der Herr Jesus in Zukunft in Macht und Herrlichkeit kommen wird, dann wird Er durch Gericht sein irdisches Volk retten. Doch hier kommt Er, um durch Gnade zu retten und nicht durch Gericht! Des Weiteren fehlt hier auch der Hinweis auf die Demut, die in Sacharja 9,9 erwähnt wird. Vielleicht möchte Gott uns hier die Herrlichkeit dessen, der immer der Demütige war, vorstellen. Den Gesichtspunkt der Demut finden wir sicher auch darin, dass sich der Herr Jesus nicht auf das Muttertier gesetzt hatte, sondern auf das Fohlen der Eselin (s. Mt 21,1–11). Aber der Heilige Geist vermeidet es hier, zu sagen, dass Er demütig auf dem Eselsfohlen sitzt.

Matthäus spricht bei dieser Szene davon, dass das Zitat aus Sacharja 9,9 erfüllt würde (s. Mt 21,4). Hier haben wir von einer gewissen Teilerfüllung gesprochen. Bedeutet das, dass der Herr Jesus bei seinem öffentlichen Erscheinen in Macht und Herrlichkeit zur Aufrichtung des Tausendjährigen Reiches noch einmal auf einem Esel reitend in Jerusalem einziehen wird? Matthäus benutzt in seinem Evangelium drei verschiedene Formulierungen, um Erfüllungen zu beschreiben. In Matthäus 21,4 wird der Ausdruck verwendet, der eine vollständige Erfüllung meint. Matthäus sagt also, dass mit dem damaligen Einzug des Herrn Jesus auf einem Esel in Jerusalem diese Prophezeiung erfüllt worden ist. Wir haben hier also die Besonderheit, dass es sich bei der betrachteten Szene um eine echte Erfüllung des Zitats aus Sacharja 9,9 handelt, und wir trotzdem noch einmal eine echte Erfüllung im Tausendjährigen Reich haben werden. Auch dann wird s ich Sacharja 9,9 im vollständigen Wortlaut buchstäblich erfüllen.

Mit dem „Siehe“ am Beginn des Zitats ist die Aufforderung verbunden, einmal genau hinzuschauen. „Zion“ steht in der Bibel für den Ort, wo Gott in seiner Gnade eine Auswahl trifft (vgl. Ps 87,2; 132,13). Die Anrede „Tochter Zion“ spielt also darauf an, dass die Juden in einer Beziehung zu diesem Ort der Gnadenauswahl Gottes stehen. Die Menschen hier sind Stellvertreter dieser Tochter Zion, der jetzt ihr König vorgestellt wird. Sie hatten in ihrem Ausruf von dem König Israels gesprochen, aber hier wird Er jetzt ganz persönlich als dein König vorgestellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang Psalm 2,6, wo Gott sagt: „Habe ich doch meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg!“

Johannes schildert diese Szene auch anders als die übrigen Schreiber der Evangelien. In den anderen Evangelien sehen wir, dass die Jünger in dieser Szene sehr aktiv sind und die Tiere besorgen. Hier im Johannes-Evangelium fehlt das alles. Der Einzige, der hier handelt, ist der Herr Jesus. Er findet diesen jungen Esel und setzt sich selbst darauf. Und wenn Er auch in dieser Szene als König Israels vorgestellt wird, schimmert doch durch sein Handeln hindurch, dass Er auch der Sohn Gottes ist. Denn Er ist in der Lage, auf einem Eselsfohlen zu sitzen und auch zu reiten. Er ist der Schöpfer, der ein Eselsfohlen, auf dem vorher noch nie jemand gesessen hatte und das völlig unberitten war, benutzen kann. Dieses Tier muss das tun, wozu Gott, der Schöpfer, es gebrauchen will.

Welcher irdische Regent käme auf die Idee, auf einem Esel in seine Residenzstadt einzuziehen? Die Könige Israels sind niemals auf Pferden geritten; die Römer wohl, aber David z. B. ritt auf einer Eselin. Gott hatte den Königen verboten, sich die Pferde zu mehren. Deshalb musste das Reittier der Könige Israels eigentlich der Esel sein. Der erste König Israels ging aus, um Eselinnen zu suchen. David ließ seinen Sohn Salomo auf einer Mauleselin reiten (s. 1. Kön 1,38). Da sehen wir übrigens schon eine erste Abweichung, denn eine Mauseselin ist eine Kreuzung zwischen Pferd und Esel. Und diese Abweichungen gingen weiter, denn Salomo selbst handelte mit Pferden (s. 1. Kön 10,28.29).

„Dies verstanden seine Jünger zuerst nicht; jedoch als Jesus verherrlicht war, da erinnerten sie sich daran, dass dies von ihm geschrieben war und sie ihm dies getan hatten“ (V. 16).

Das zweite Zitat in Vers 15 wird im Gegensatz zu dem ersten Zitat in Vers 13 nicht von jemandem ausgesprochen, sondern es wird als ein Kommentar des Heiligen Geistes eingefügt. Dann folgt in Vers 16 etwas, was Johannes in seinem Evangelium häufiger tut: Er kommentiert eine Szene rückblickend. Die Jünger haben also diese Szene der Herrlichkeit des Herrn Jesus als König Israels damals, als sie dabei gewesen waren, nicht verstanden. Später, als der Herr Jesus verherrlicht war, verstanden sie diese Dinge. Damit ist natürlich gemeint, dass der verherrlichte Herr aus dem Himmel den Heiligen Geist herabsenden würde, der sie an alles erinnern und ihnen alles erklären würde (s. Joh 14,26; 16,13). Aber da der Herr sie über die Person des Heiligen Geistes und sein Wirken erst in seinen letzten Unterredungen auf dem Obersaal und auf dem Weg in den Garten Gethsemane belehren würde, wird hier nur auf die Verherrlichung des Herrn Bezug genommen.

Wir sehen bei den Jüngern auch ganz praktisch, dass sie die Worte des Herrn in ihrem Herzen und Gedächtnis verwahrt hatten, obwohl sie sie nicht immer verstanden haben. Als dann zu gegebener Zeit der Augenblick kam, konnte Gott sie an diese Worte erinnern. Geht es uns nicht auch manchmal so, dass wir auf Stellen im Wort Gottes stoßen, die wir nicht sofort verstehen? Dann lernen wir von den Jüngern hier, dass wir sie trotzdem studieren sollten, damit Gott uns zu seiner Zeit auch einmal daran erinnern kann.

Die Jünger waren sich dessen bewusst, dass der Herr Jesus der verheißene Messias seines Volkes war, denn das hatten sie im ersten Kapitel selbst zueinander gesagt (s. Joh 1,41). Muss es den Herrn nicht geschmerzt haben, dass seine Jünger diese Szene hier nicht auf Ihn haben beziehen können? Maria kannte viel weniger als die Jünger und hatte viel weniger gehört; aber das, was sie kannte, hatte sie in ihr Herz aufgenommen. Beschämender Gegensatz für die Jünger, zu denen ja auch Johannes, der Schreiber dieses Evangeliums, gehörte. Er hatte es zu dieser Zeit auch noch nicht verstanden.

Dann folgt noch ein tiefgründiger Nachsatz: „...und sie ihm dies getan hatten“. Man hat den Eindruck, dass Johannes sein Verhalten dabei infrage stellt, wenn er sich später an diese Szene zurückerinnert. War es überhaupt richtig, sich in diesem Augenblick von der begeisterten Volksmenge mitreißen zu lassen und den Herrn als Messias zu empfangen? Sie lebten ja durchweg in dieser Erwartung; aber es scheint, dass Johannes Jahre später beim Schreiben seines Evangeliums zu der tieferen Einsicht der Wege Gottes gekommen ist, dass sein Einzug in Jerusalem nicht der richtige Zeitpunkt gewesen ist, Ihn als Messias zu begrüßen.

Die Jünger werden diese Schriftstelle aus dem Propheten Sacharja sicher gekannt haben; aber erst als der Herr verherrlicht war, erkannten sie im Zusammenhang mit dieser Stelle zwei Dinge. Als Erstes wurde ihnen klar, dass diese Stelle tatsächlich auf Ihn hinweist. Lesen wir so Gottes Wort? Die Bemühungen des Heiligen Geistes gehen immer dahin, uns die Person des Herrn in seinem Wort großzumachen und aus den Schriften zu zeigen, wie alles auf Ihn hinweist. Und als Zweites verstanden sie dann, dass diese Schriftstelle sich hier bei dieser Szene zumindest zum Teil erfüllt hatte. Was muss das für eine Freude für die Jünger gewesen sein, als sie das verstanden! Und wie muss das ihr Vertrauen gestärkt haben, dass sich auch alles Weitere in Ihm noch erfüllen wird!

In Johannes 2,21.22 finden wir eine ähnliche Situation wie hier. Dort hatte der Herr im Bild des Tempels seines Leibes von seiner Auferstehung gesprochen, und die Jünger erinnerten sich erst nach seiner Auferweckung an diese Worte und glaubten daran. Auch dort haben wir zunächst Unverständnis wie hier, und dann folgt das Verständnis bei seiner Auferstehung. Darum ging es bei dieser Unterredung ja auch: „Brecht diesen Tempel ab“, das ist sein Tod; „und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten“, das ist seine Auferstehung. Sobald der Herr Jesus auferstanden war, hatten sie dieses Wort verstanden. Man muss sich bei den Jüngern immer vor Augen halten, dass sie die Haltung, die die Emmaus-Jünger zum Ausdruck brachten: „Wir aber hofften, dass er der sei, der Israel erlösen solle“ (Lk 24,21), auch teilten. Sie hofften und warteten darauf, dass der Herr sein Königtum antreten würde. Darauf waren sie so sehr fixiert, dass ihnen jeder andere Gedanke unmöglich vorkam.

Hier nun setzt das Verständnis der Jünger nicht nach der Auferstehung des Herrn ein, sondern nach seiner Verherrlichung. Erst durch die damit verbundene Ausgießung des Heiligen Geistes verstanden sie, dass die ganze Messias-Erwartung des Volkes Israel sich in ihrer Zeit nicht erfüllen würde, sondern total unterbrochen worden ist. Erst als der Herr endgültig den Schauplatz seines Wirkens verlassen hatte und von der Erde in den Himmel aufgefahren war, verstanden sie, dass Er als der Messias abgeschnitten worden war (s. Dan 9,26).

Aber sowohl in Johannes 2 als auch hier in Johannes 12 haben die Jünger die Worte des Herrn nicht vergessen. Sie haben die Worte und die Szenen zwar nicht verstanden; aber sie hatten sie gehört und behalten. Und zu gegebener Zeit konnte der Herr ihnen dies verständlich machen. Deshalb wollen wir uns nicht entmutigen lassen, wenn wir bestimmte Stellen der Heiligen Schrift noch nicht verstehen und uns trotzdem weiter damit beschäftigen. Er wird uns, wenn wir seinem Wort gehorsam sein wollen, zu gegebener Zeit das Verständnis darüber schenken. Lasst uns nicht nur die Stellen der Schrift lesen, von denen wir meinen, dass wir sie verstehen können, sondern auch gerade die, die wir noch nicht verstehen. Wir werden bei jedem Untersuchen des Wortes Gottes weitergeführt werden. Wenn wir das Wort Gottes ernstlich und aufrichtig lesen, werden wir immer eine Stufe weiterkommen. Ein wertvolles Hilfsmittel dazu sind die guten Schriften der Brüder, denen der Herr vor ca. 200 Jahren Licht über lange verschüttete christliche Wahrheiten geschenkt hat. Lehrmäßig bessere Schriften als diese gibt es nicht. Wir wollen nicht Brüdern nachfolgen, aber sie sind Gaben, die der Herr seiner Versammlung gegeben hat. Sie waren nicht unfehlbar, aber sie haben durch ernstliches Gebet vom Herrn tiefes Verständnis über grundlegende geistliche Wahrheiten bekommen, wovon wir heute noch zehren.

In diesem Zusammenhang eine Frage zu Johannes 20,8: Maria Magdalene hatte Petrus und Johannes berichtet, dass das Grab, wo der Herr gelegen hatte, leer sei. Daraufhin liefen die beiden Jünger zu dem Grab, schauten hinein, und dann heißt es von Johannes, dass er sah und glaubte. Was hat er gesehen und was hat er geglaubt? Sie sahen, dass das Grab leer war, und sie glaubten, dass das Grab leer war. Sie hielten die Worte Marias für wahr und glaubten diesen Worten. Vers 9 gibt die Erklärung dafür, dass mit diesem Glauben nicht der Glaube an die Auferstehung des Herrn gemeint sein kann. Ihr Glaube beruhte auf dem Sehen.

„Die Volksmenge, die bei ihm war, bezeugte nun, dass er Lazarus aus dem Grab gerufen und ihn aus den Toten auferweckt hatte. Darum ging ihm auch die Volksmenge entgegen, weil sie hörte, dass er dieses Zeichen getan hatte“ (V. 17.18).

Es ist wieder nur Johannes, der in seinem Evangelium diese Szene mit der Auferweckung des Lazarus verbindet. Im Lukas-Evangelium wird sein Einzug in Jerusalem damit verbunden, dass der Herr über diese Stadt weint. Er nimmt die Ehrerbietung der Menge an, aber Er weint über die Stadt, weil Er die Konsequenzen seiner Verwerfung deutlich vor sich sieht.

Die Auferweckung des Lazarus war also der Grund dafür, dass sich jetzt zwei verschiedene Volksmengen begegnen. Die Volksmenge, die bei Ihm war, wird zum ersten Mal in Vers 9 erwähnt; und die Volksmenge, die Ihm entgegenging, finden wir zum ersten Mal in Vers 12 erwähnt.

Auf die erste Volksmenge, die bei der Auferweckung des Lazarus dabei gewesen war, hatte der Ruf des Herrn mit lauter Stimme (s. Joh 11,43) einen so großen Eindruck gemacht, dass dies hier noch einmal von ihr bezeugt wird. Dieser laute Ruf war zum Zeugnis seiner göttlichen Macht als Sohn Gottes geschehen, und wir sehen hier, dass dieses Zeugnis bei der Volksmenge seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Das wunderbare Ergebnis dieses Rufes, dass Lazarus tatsächlich lebendig aus dem Grab herauskam, war der Beweis seiner göttlichen Macht. Seine Herrlichkeit als Sohn Gottes ist hier der Ausgangspunkt für dieses weitere Zeugnis seiner Herrlichkeit als König Israels.

Dann erklärt der Heilige Geist den Beweggrund der zweiten Volksmenge. Sie hatten von diesem Zeichen gehört. Ein Zeichen im Johannes-Evangelium ist ja die Beglaubigung, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes (s. Joh 20,30.31). Die Auferweckung des Lazarus durch den Herrn beglaubigte Ihn als den Christus, den Sohn Gottes. Wenn der Herr ein Zeichen tat, gab es oftmals vonseiten der Volksmenge eine eindeutige Reaktion darauf. So war es auch nach der Speisung der Fünftausend in Johannes 6, wo sie Ihn auf der Stelle zum König machen wollten.

„Da sprachen die Pharisäer zueinander: Ihr seht, dass ihr gar nichts ausrichtet; siehe, die Welt ist ihm nachgegangen“ (V. 19).

Die Pharisäer werden immer mehr in die Defensive gedrängt und empfinden deutlich ihre Ohnmacht. Aber sie werden dadurch nur zu noch größerem Hass angestachelt. In Vers 10 waren es die Hohenpriester, die beratschlagt hatten, Lazarus zu töten. Hier sind es die Pharisäer, die sich gegen den Herrn Jesus aufstellen. Sie alle verfolgen miteinander in der völligen Ablehnung und Verwerfung des Herrn das gleiche Ziel, aber sie sind doch jeder für sich an seiner Stelle tätig.

Das, was die Pharisäer zueinander sagen, macht deutlich, dass sie einer dem anderen die Schuld an ihrer eigenen Ohnmacht zuschieben wollen. Eine Haltung, die wir leider nur zu gut von uns selbst kennen: Schuld sind immer die anderen. Adam hatte die Schuld auf Eva geschoben, Eva auf die Schlange (s. 1. Mo 3). Und diese durch die Sünde verdorbene Natur haben wir alle in uns. Wie reden wir miteinander in unseren Ehen, unter uns Brüdern, unter den Geschwistern? Ist da auch immer der andere Schuld?

Die Herrlichkeit des Herrn Jesus als Sohn des Menschen

Im vorhergehenden Abschnitt haben wir gesehen, dass der Herr Jesus von Gott die Ehre bekommen hat, als König Israels in Jerusalem bezeugt zu werden. Aber weiter geht das nicht. Es wurde ein öffentliches Zeugnis abgelegt, dass Er der König Israels ist. Wir haben auch gesehen, dass dieser Messias weggetan würde. Jetzt kommen Griechen zu diesem Fest; Menschen, die nicht zum Volk Israel gehören und die deshalb kein Anrecht haben an dem Sohn Davids, an seiner Herrlichkeit als König Israels. Der Herr Jesus benutzt dieses Suchen der Griechen, um sich selbst als Sohn des Menschen vorzustellen, und zeigt, dass Er die Herrlichkeit dieses Titels auf dem Weg durch Leiden und durch den Tod bekommen würde. Als der Sohn des Menschen wird Er Menschen aus allen Nationen in die Segnungen einführen, die Er durch sein Leiden und Sterben am Kreuz erwirken wird.

„Es waren aber einige Griechen unter denen, die hinaufgingen, um auf dem Fest anzubeten. Diese nun kamen zu Philippus, dem von Bethsaida in Galiläa, und baten ihn und sagten: Herr, wir möchten Jesus sehen“ (V. 20.21).

Gott hatte es so gefügt, dass an diesem Fest in Jerusalem Griechen waren, die anbeten wollten. Das waren keine Proselyten (Ausländer, die zum Judentum übergetreten waren) oder Juden, die im Ausland lebten, sondern wirkliche Griechen, Menschen aus dem Heidentum, die den wahren Gott Israels anbeten wollten. Noch bestand die Zwischenwand der Umzäunung (s. Eph 2,14), die die Nationen von den Juden trennte. Aber der Herr Jesus stand im Begriff, durch sein Sterben am Kreuz einen neuen Boden zu bereiten und diese Zwischenwand zu beseitigen für alle, die an Ihn glauben würden. Die Gnade sollte sich ausweiten auf alle Nationen.

Bei der Einweihung des ersten Tempels unter Salomo hatte er in seinem bewegenden Gebet an eine solche Situation gedacht (s. 1. Kön 8,41–43). Die Griechen waren „um seines Namens willen“ gekommen – „Herr, wir möchten Jesus sehen“. Sie hatten von den Zeichen, die der Herr Jesus mit starker Hand vollbracht hatte, gehört, und sie kamen auch, um anzubeten. Das Ergebnis sollte sein, „dass alle Völker der Erde deinen Namen erkennen“ – das erinnert uns an die ganze Breite dieses wunderbaren Titels des Sohnes des Menschen. Und doch überragt die Wirklichkeit in dem Herrn Jesus noch das Gebet Salomos, denn Salomo konnte die himmlische Herrlichkeit, die mit dem Titel des Sohnes des Menschen verbunden ist, noch gar nicht kennen. Aber die Parallelität zwischen seinem Gebet und dieser Szene hier ist schon auffallend.

„Philippus kommt und sagt es Andreas, und wiederum kommt Andreas mit Philippus, und sie sagen es Jesus“ (V. 22).

Philippus ist mit Herr angesprochen worden; er hätte sich dadurch geschmeichelt fühlen können und sich über andere erheben können, aber er geht zuerst zu Andreas. Warum tut er das? Es war ihm ja keine schwierige Frage gestellt worden, jeder hätte die Griechen zu dem Herrn führen können. Aber Philippus bespricht es zuerst mit Andreas, und dann gehen sie zusammen zu dem Herrn.

Andreas war ein Experte darin, Menschen zum Herrn Jesus zu führen. Er hatte seinen eigenen Bruder zu dem Herrn geführt (s. Joh 1,40.41), er hatte auch den Knaben mit den fünf Gerstenbroten und zwei Fischen zu dem Herrn gebracht (s. Joh 6,9). Jetzt hätten wir erwartet, dass er auch die Griechen zu Ihm führt – aber genau das tut er nicht. Offenbar waren die Jünger ein bisschen gehemmt, solche zu dem Herrn zu führen, die nicht zu dem irdischen Volk Gottes gehörten.

Hätten die beiden Jünger den Griechen nicht zu verstehen geben können, dass sie gar keinen Anteil an dem Messias des Volkes Israel hatten? Vielleicht standen sie aber auch unter dem Eindruck der jubelnden Volksmenge, und jetzt kamen sogar noch solche aus den Nationen hinzu; das könnte doch bedeuten, dass sie kurz vor der Aufrichtung des Reiches stünden. Das mussten sie unbedingt dem Herrn sagen: Der Augenblick schien gekommen, dass Er nicht nur der Herrscher über Israel, sondern auch darüber hinaus sein würde.

Vor diesem Hintergrund bekommt die Antwort des Herrn im nächsten Vers eine tiefe Bedeutung! Der Segen konnte nur fließen, wenn Er sterben würde. Die Jünger waren dabei, Ihn großzumachen, indem sie meinten, jetzt sei die Gelegenheit zur Aufrichtung seines Reiches. Doch Er musste ihnen sagen, dass Er dadurch groß werden würde, wenn Er auf das Kreuz erhöht werden würde, dass Er durch seinen Tod verherrlicht werden würde.

„Jesus aber antwortet ihnen und spricht: Die Stunde ist gekommen, dass der Sohn des Menschen verherrlicht werde“ (V. 23).

Als der Herr Jesus diese Griechen hinaufkommen sah, sah Er voraus auf das, was notwendig war, damit das Ergebnis eintreten konnte, dass wirklich Heiden nahe zu Ihm kommen konnten. In Matthäus 15,24 sagt der Herr zu der kananäischen Frau: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Wenn sich das ändern sollte, musste Er an das Kreuz gehen und das Werk Gottes vollbringen. Erst dadurch würde der Ratschluss Gottes, der ganzen Welt Gnade erweisen zu können und sie unter den Segen zu bringen, in Erfüllung gehen. Nur auf dem Weg durch den Tod kann der Herr Jesus diese Herrlichkeit als Sohn des Menschen antreten und kann sich in dieser Herrlichkeit mit Menschen verbinden, mit denen Er diese Herrlichkeit teilen wird.

Der Herr Jesus beansprucht diesen Titel „Sohn des Menschen“ für sich und zeigt, dass Er auf dem Weg durch Leiden und durch den Tod als Sohn des Menschen verherrlicht wird. Wenn wir über die Herrlichkeit des Herrn Jesus als Sohn des Menschen nachdenken, dann ist diese Herrlichkeit erstens breiter als die Herrlichkeit als König Israels. Es ist eine Herrlichkeit, die alle Menschen und auch die ganze Schöpfung einbezieht. Und diese Herrlichkeit ist zweitens auch höher als die Herrlichkeit als König Israels, denn es ist auch eine himmlische Herrlichkeit; sie ist verbunden mit seinem Platz, den Er nach vollbrachtem Werk zur Rechten Gottes einnimmt.

Was den Titel „Sohn des Menschen“ betrifft, lesen wir in Psalm 80,18 „Deine Rechte sei auf dem Mann deiner Rechten, auf dem Sohn des Menschen, den du dir gestärkt hast!“ Daniel sieht in Gesichten der Nacht, dass einer wie eines Menschen Sohn kam und zu dem Alten an Tagen gebracht wurde. In dieser Stelle wird auch deutlich, dass diese Herrlichkeit als Sohn des Menschen breiter gefasst ist als die des Sohnes Davids, denn alle Völker, Völkerschaften und Sprachen dienten ihm; und seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königtum ein solches, das nie zerstört werden wird (s. Dan 7,13.14). Hebräer 2 zeigt uns, dass dieser Titel „Sohn des Menschen“ ein höheres Niveau beinhaltet (s. V. 5–8).

Schon im ersten Kapitel dieses Evangeliums sagt der Herr Jesus selbst in seiner Unterredung mit Nathanael, dass der Titel „Sohn des Menschen“ das Größere ist gegenüber dem Titel des „Königs Israels“ (s. V. 49–51). Dieser Titel „Sohn des Menschen“ ist untrennbar mit seinem Tod verbunden, Er musste ein wenig unter die Engel erniedrigt werden (s. Ps 8,5.6; Heb 2,5–8). Wir sehen in diesem Titel also seine totale Erniedrigung und seine wunderbare Verherrlichung. Als Sohn des Menschen ist Er von Stephanus in dem geöffneten Himmel gesehen worden (s. Apg 7,56), und Sohn des Menschen wird Er auch noch sein, wenn Er sichtbar erscheinen wird (s. Mt 24,30).

Was ist damit gemeint, dass die Stunde gekommen ist, dass der Sohn des Menschen verherrlicht wird? Nicht seine Herrlichkeit im Himmel, sondern seine vollkommene Hingabe und sein vollkommener Gehorsam als Mensch im Tod am Kreuz. Der Herr sagte das sehr deutlich, nachdem Judas den Obersaal verlassen hatte (s. Joh 13,31). Die Verherrlichung des Sohnes des Menschen war sein Gehorsam bis zum Tod. Am Kreuz von Golgatha hat der Herr Jesus im Vollmaß gezeigt, dass Er der abhängige und gehorsame Mensch war. Der Herr Jesus hat alle Phasen des Mensch-Seins auf der Erde durchlebt. Adam war nicht Sohn des Menschen, denn er wurde von Gott erschaffen. Und Adam hätte gehorsam sein sollen und müssen, aber er war es nicht. Doch der Herr Jesus als der letzte Adam war der vollkommen Gehorsame – „bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). Das ist die Verherrlichung des Sohnes des Menschen. Er hat als der wahre Sohn des Menschen gezeigt, wie der Mensch gegenüber Gott steht. Es geht bei diesem Gesichtspunkt nicht um die Sühnung am Kreuz, sondern um die Tatsache, was der Mensch vor Gott ist.

Die Stunde ist also das Kreuz. Durch den Herrn Jesus am Kreuz ist Gott verherrlicht worden. Gott nimmt das zum Anlass, den Sohn des Menschen zu verherrlichen, indem Er Ihm eine Antwort auf seinen vollkommenen Gehorsam und seine völlige Hingabe gibt: seine Auferweckung und den Platz der Ehre zu seiner Rechten als Mensch im Himmel. Dieser Titel „Sohn des Menschen“ umfasst also den Tiefpunkt und den Höhepunkt seines Weges.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht“ (V. 24).

Der Herr Jesus als der Schöpfer hat in seine Schöpfung von Anfang an ein Bild gelegt, was Er in dieser Stunde, von der Er eben gesprochen hat, erfüllen würde. Als der Herr Jesus das Weizenkorn geschaffen hat, hat Er an diese Stunde der Verherrlichung des Sohnes des Menschen gedacht. Er nimmt diesen seit Jahrtausenden sich immer wiederholenden Vorgang aus der Schöpfung, um zu zeigen, dass Er nicht allein bleiben wollte. Es war das Ziel seines Kommens, nicht allein zu bleiben.

Wenn ein Weizenkorn in die Erde gelegt wird, beginnt mit dem Keimvorgang ein hochkomplexes Geschehen. Welche und wie viele Prozesse sich da abspielen, ist ungefähr vergleichbar mit dem Bau eines Hochhauses. Enzymatische und spezielle chemische Abläufe ereignen sich, Wurzeln und Blätter werden gebildet und anderes mehr. Aber das Wesentliche bei diesem hochkomplexen Vorgang ist, dass er unumkehrbar ist. Er kann zwar gestoppt, aber nicht rückgängig gemacht werden. Jede Keimung ist so komplex, dass die Wissenschaft sie bis heute nicht bis ins letzte Detail erforscht hat. Sie ist auch heute noch ein Wunder Gottes. Staunen wir nicht darüber, wie treffend bis ins Detail die Beispiele sind, die der Herr benutzt? Wenn die neue Pflanze dann gewachsen ist, findet man von dem Korn, das in die Erde gelegt wurde, nichts mehr wieder, es ist völlig aufgezehrt. Der Herr Jesus ist bis in die tiefsten Tiefen gegangen und hat sich völlig aufgezehrt – und Er hat durch sein Sterben viel Frucht hervorgebracht, Frucht von der gleichen Art!

Der Apostel Paulus wendet diesen Vorgang aus der Natur in 1. Korinther 15 ja auch auf uns an. Wir säen, indem wir einen gestorbenen Leib in die Erde legen, und es kommt in der Auferstehung ein neuer Leib hervor (s. V. 42–44). Aber besonders und einzigartig im Blick auf den Tod des Herrn Jesus ist, dass durch diesen Tod viel Frucht von der gleichen Art hervorkommt. Wir haben Teil an seinem Leben.

Das Weizenkorn war eine der Früchte des Landes Kanaan. Es spricht von dem Herrn Jesus, der wie das Weizenkorn Leben in sich selbst besitzt, um, wenn es stirbt, neues Leben hervorzubringen, Leben der gleichen Art. Der Herr Jesus musste als Mensch sterben, um Frucht hervorzubringen, aber nicht irgendeine Frucht, sondern viel Frucht von der gleichen Art. Eine unüberschaubare Menge an wunderbarem Ergebnis von solchen, die jetzt wie Er von der gleichen Art sind (s. 1. Kor 15,48b). Auch das ist ein Aspekt der Verherrlichung des Sohnes des Menschen in seinem Tod!

Der Sohn des Menschen musste also sterben, und Er wird bald herrschen. Aber Er musste nicht sterben, um die Herrschaft antreten zu können. Er musste sterben, um diese Herrschaft teilen zu können! Er hätte das Erbe auch allein in Besitz nehmen können, aber Er wollte das Erbe nicht allein antreten; Er musste sterben, um mit Menschen verbunden sein zu können.

Gott als solcher bedarf nichts, Er ist der selige und alleinige Machthaber (s. 1. Tim 6,15), Er wird nicht von Menschenhänden bedient, als ob Er noch etwas nötig hätte (s. Apg 17,25). Aber hier wird von dem Herrn Jesus, dem Sohn Gottes, angedeutet, dass Er nicht allein bleiben wollte. Er will bewusst sterben, weil Er nicht allein bleiben will. Wir denken an den hebräischen Knecht, der nach seinem treuen Dienst hätte allein ausgehen können, aber er wollte nicht frei ausgehen (s. 2. Mo 21,4.5). In der Gottheit ist nichts hinzuzufügen, und doch wollte Gott, der Sohn, nicht allein bleiben, sondern auf ewig mit Menschen Gemeinschaft haben. Wir stoßen hier an Grenzen unseres Erfassungsvermögens, und wir sollten anbetend staunen über etwas, was wir mit unserem menschlichen Verstand nicht ergründen können!

„Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren; und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren“ (V. 25).

Dieser Vers hat eine ganz besondere Wichtigkeit für die Zeit, wo der Herr Jesus verworfen ist und seine Jünger hier auf dieser Erde sind. Dass er diese besondere Dringlichkeit hat, können wir aus der Tatsache entnehmen, dass die Formulierung in diesem Vers so oder in leicht abgewandelter Form bei vier verschiedenen Gelegenheiten insgesamt sechs Mal in den Evangelien von unserem Herrn ausgesprochen wird:

  • „Wer sein Leben findet, wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden“ (Mt 10,39).
  • „Denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden“ (Mt 16,25).
  • „Denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verlieren wird um meinet- und des Evangeliums willen, wird es erretten“ (Mk 8,35).
  • „Denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erretten“ (Lk 9,24).
  • „Wer irgend sein Leben zu retten sucht, wird es verlieren; wer aber irgend es verliert, wird es erhalten“ (Lk 17,33).
  • „Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren; und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren“ (Joh 12,25).

Diese Kernaussage finden wir also sechs Mal im Neuen Testament. Es werden darin zwei verschiedene Lebenskonzepte vorgestellt. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die ihr Leben lieben. Wer das tut, wird es verlieren, er wird einmal in eine Existenz hineingestoßen werden, die den Begriff Leben nicht verdient – ewig verloren!

Auf der anderen Seite gibt es solche, die ihr Leben in dieser Welt hassen. Sie wissen, dass diese Welt unter dem Gericht Gottes steht (s. Joh 12,31), dass sie schon verurteilt ist und es nur eine Frage der Zeit ist, bis dieses Urteil auch vollzogen wird. Die Welt steht auch unter einem grausamen Despoten, der bald hinausgeworfen werden wird. Das System Welt, und die Art, wie man in diesem System lebt, müssen wir Christen hassen. Wer das als Lebenskonzept hat, wird einmal in das ewige Leben eingehen.

Johannes beschreibt ja in Bezug auf das ewige Leben sehr oft den Gesichtspunkt, dass wir dieses Leben jetzt schon besitzen. Aber hier wird es vorgestellt als etwas, das am Ende unseres Weges liegt – die Heimat des ewigen Lebens. Da werden einmal diejenigen eingehen, die jetzt ihr natürliches Leben in dieser Welt hassen, die es sich hier nicht so angenehm wie möglich machen.

In den vorhergehenden Versen haben wir den Weg beschrieben gefunden, den der Herr Jesus gehen freiwillig würde. Es war ein Weg durch Leiden und Sterben hin zur Herrlichkeit. Der Herr Jesus hat sein Leben in dieser Welt nicht geliebt, Er hat es in den Tod gegeben – und sein Weg muss jetzt auch unser Weg sein. Sein Weg ist gleichsam das Modell für diejenigen, die Ihm gehören und Ihm nachfolgen.

„Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein. Wenn jemand mir dient, so wird der Vater ihn ehren“ (V. 26).

Jetzt lernen wir, dass Dienst nicht zu trennen ist von der Nachfolge. Der Herr ist hier auf dem Weg zum Kreuz; und Er sagt jetzt praktisch: Wenn jemand mir dienen will, so muss er bereit sein, mir auf diesem Weg zu folgen. Es ist ein Weg, auf dem wir nicht etwas für uns suchen können.

Doch dieser Weg in der Nachfolge hat ein wunderbares Ziel, das Vaterhaus! Immer dann, wenn der Herr Jesus in diesem Evangelium die Worte „wo ich bin“ ausspricht, meint Er damit das Haus seines Vaters (s. Joh 7,34; 12,26; 14,3; 17,24). Da wird dann auch der sein, der Ihm hier nachgefolgt ist und Ihm gedient hat.

Hier haben wir die erste von zwei wunderbaren Verheißungen dieses Verses für jeden, der dem Herrn dienen möchte: Vertrautheit und ewige Gemeinschaft mit dem Herrn im Haus seines Vaters. Da, wo der Herr Jesus nie aufgehört hat zu sein, wo Er jetzt bald als Mensch hingehen würde, da wird auch sein Diener sein.

Die zweite Verheißung für den, der Ihm dient, ist, dass der Vater ihn ehren wird. Die Welt wird einen solchen nicht ehren, sondern verachten; aber der Tag wird kommen, wo die Welt vergeht und ihre Lust, und dann wird der Vater jeden Dienst, der für den Namen seines Sohnes in den Tagen seiner Verwerfung getan wurde, auf eine besondere Weise würdigen. Er wird uns mehr als entschädigen für die vergleichsweise kleinen Mühen und Entsagungen, die wir seinetwegen auf uns genommen haben.

„Jetzt ist meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme aus dem Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn auch wiederum verherrlichen“ (V. 27.28).

Wir können über diese beiden Verse nur mit großer Ehrfurcht nachdenken und mit aller Vorsicht etwas darüber sagen. Einerseits haben wir den Herrn Jesus hier als den vollkommenen Menschen vor uns, aber andererseits hören wir hier auch den Sohn, der zu dem Vater spricht. Es ist einer dieser Verse, die uns die Gottheit und die Menschheit des Herrn Jesus so eng miteinander verwoben vorstellen.

Nachdem der Herr etwas über die gesagt hatte, die als Frucht aus seinem Sterben hervorgehen würden, kommt Er jetzt auf das zu sprechen, was mit seinem Sterben in Verbindung steht, und was das für Ihn bedeutet. Wenn Er daran denkt, was es bedeutet, in den Tod zu gehen, dieses Gericht, den Tod als Lohn der Sünde, auf sich zu nehmen, dann erschüttert es Ihn zutiefst. Da kann es nicht anders sein, dass Er als der Reine, der vollkommen sündlose Mensch diese Bitte ausspricht, dass der Vater Ihn aus dieser Stunde retten möchte. Wir denken bei diesen Worten an Psalm 126,6: „Er geht hin unter Weinen und trägt den Samen zur Aussaat.“

Dass die Seele des Herrn Jesus bestürzt, erschüttert oder hin- und hergeworfen war, zeigt uns, dass Er vollkommen Mensch war. Er hatte einen Geist, in dem Er am Grab von Lazarus tief geseufzt hatte (s. Joh 11,33), Er hatte einen Körper, und hier hören wir von der Bestürzung seiner Seele. Die Tatsache, als Mensch in den Tod zu gehen, war für Ihn etwas, was Ihn tief erschütterte.

Johannes beschreibt ja nicht die Szene im Garten Gethsemane, wie Matthäus, Markus und Lukas es tun. Aber wir sehen hier in diesem Vers Parallelen zu dem, was die übrigen Schreiber der Evangelien von dem Gebetskampf in Gethsemane berichten. Es kommen gewisse Ähnlichkeiten in den Empfindungen zum Ausdruck wie dort, als der Herr Jesus zu dem Vater betet. Zuerst bringt Er seine Not zum Ausdruck; Er weiß, dass Er den Tod in seiner ganzen Bitterkeit schmecken wird (s. Heb 2,9).

Doch dann kommt eine weitere Vollkommenheit seiner Person vor uns: Er will diesen Weg gehen! Seine oberste Motivation war, dass der Name des Vaters verherrlicht würde. Trotz der Bestürzung seiner Seele durch das Bewusstsein dessen, was vor Ihm steht, sehen wir eine völlige Bereitschaft, diesen furchtbar schweren Weg zu gehen, damit der Name des Vaters verherrlicht wird. Anbetungswürdiger Herr!

Den Namen einer Person zu verherrlichen, bedeutet, alle Vortrefflichkeiten dieser Person in den Vordergrund zu stellen; alles, was diese Person beinhaltet oder ausmacht. Das ist am Kreuz geschehen: Der Name des Vaters ist dort verherrlicht worden. Wir können sagen, dass das eines der vornehmsten Ziele des Herrn Jesus in Verbindung mit seinem Sterben am Kreuz war. Er wusste, dass Er den Namen des Vaters verherrlichen würde.

Dann kommt eine wunderbare Antwort aus dem Himmel: „Ich habe ihn [den Namen des Vaters] verherrlicht [in der Auferweckung des Lazarus für diese Erde] und werde ihn [den Namen des Vaters] auch wiederum verherrlichen [durch die Auferweckung seines Sohnes für den Himmel].“ Der Herr Jesus ist aus den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters (s. Röm 6,4).