Die poetischen Bücher

Die poetischen Bücher sind ein deutlich eigenständiger und sehr interessanter Teil der biblischen Offenbarung. Keines dieser Bücher geht von einer im Sinn des Neuen Testaments vollendeten und bekannten Erlösung aus, obwohl sich jede Segnung darauf stützt. Bei Hiob findet sich allerdings eine besondere Stelle, die sagt: „Ich habe eine Sühnung gefunden“ (Hiob 33,24). Und wir wissen, dass die Psalmen prophetisch von den Leiden Christi sprechen, durch die die Erlösung vollbracht wurde.

Die vollbrachte Erlösung wird jedoch heute durch den Glauben erkannt, sowohl von Juden als auch von Christen. Jesaja sagt voraus, dass Israel sie vollständig erkennen wird (Jes 53). Unter dem Gesetz wird die Erlösung bereits angedeutet, aber die Kenntnis der ewigen Erlösung ist eine christliche Erkenntnis. Auch die Juden kommender Tage werden sie verstehen, wenn sie auf den blicken, den sie durchbohrt haben (Sach 12).

Vor dem Tod Christi war der Vorhang da und das Allerheiligste unzugänglich. Es gab aber eine mehr oder weniger klare Vorstellung von einem kommenden persönlichen Erlöser sowie von der Gunst Gottes für die, die mit Ihm leben. Es gab Vertrauen in Ihn und seine Verheißungen. Erst als Gott sich völlig offenbarte, kam man zur Erkenntnis, dass man durch die Sünde von der Gegenwart Gottes getrennt war. Dann kam aber auch die Erkenntnis, dass für den Gläubigen die Sünde entfernt ist und wir durch Christi Werk vollständig und für immer versöhnt und zu Gott gebracht sind.

Die Bücher, über die wir sprechen, sind keine Prophezeiungen über Gottes Handlungen oder Taten. Nur die Psalmen vermitteln die zukünftige Erlösung durch Gottes Macht und Gericht. Die poetischen Bücher sind vielmehr der göttlich inspirierte Ausdruck menschlicher Gedanken und Gefühle unter Gottes Herrschaft.

Sie sind auch Offenbarungen Gottes, bevor die Erlösung vollständig erkannt wurde. Diese Offenbarungen geschahen hauptsächlich in Israel, daher sind diese Schriften vor allem der vielfältige Ausdruck von Gottes Weg mit Israel. Aber was für Gottes Wege mit Israel gilt, gilt prinzipiell überall. In Israel wurde zudem direkt die Frage nach der positiven Gerechtigkeit des Menschen durch das Gesetz aufgeworfen, das als vollkommene Lebensregel für die Menschen gilt.

Der Umfang des Buches Hiob

Das Buch Hiob bietet uns ein Beispiel der Beziehungen eines gottesfürchtigen Menschen mit Gott und wie Gott in dieser Welt des Bösen mit den Menschen zu ihrem Wohl verfährt. Dies geschah außerhalb von Israel und bevor es das Volk Israel gab. Ich zweifle aber nicht daran, dass die Geschichte Hiobs ein klares Vorbild von Israel ist.  Hiob empfindet, dass der Mensch unmöglich vor Gott gerecht sein kann. Er beklagt sich über Furcht sowie darüber, dass er keinen Schiedsmann zwischen sich und Gott hatte. Elihu aber, der an Gottes statt diese Funktion einnimmt, erklärt nicht die Erlösung, sondern Züchtigung und Regierung (Hiob 33,29 etc.).

Das Buch Prediger

Das Buch des Predigers betrachtet diese Welt unter derselben Regierung und in ihrem gegenwärtigen gefallenen Zustand. Es erhebt sich die Frage, ob der Mensch dort auf irgendeine Weise Glück und Ruhe finden kann ohne Erkenntnis der Erlösung. Es findet sich dort auch keine anerkannte Beziehung zu Gott: Es heißt immer Elohim (Gott), niemals der HERR. Die Furcht Gottes und das Halten seiner Gebote war die ganze Pflicht des Menschen.

Das Lied der Lieder und das Buch der Sprüche

Das Lied Salomos gibt die direkte Beziehung zum Sohn Davids, die hingebungsvolle Liebe, die zur Beziehung zu Christus gehört. Das Buch der Sprüche gewährt eine Führung durch den gemischten und verworrenen Schauplatz. Hier steht alles auf dem Boden der Beziehung zu dem HERRN. Gott (Elohim) wird nur ein paar Mal erwähnt, was das Prinzip nicht beeinträchtigt. Keiner stellt sich aber auf den Boden der erkannten Erlösung. Die Menschen erwarten die Erlösung (Befreiung) durch Macht.

Der Römerbrief, der die Erlösung und die persönliche Rechtfertigung vorstellt, beginnt mit dem Zorn vom Himmel her (Röm 1,18). Es geht dabei nicht um die Regierung, sondern um den ewigen Zorn über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit. Die Sache der Nationen und der Juden wird völlig untersucht und von Gott selbst ans Licht gebracht. Es kann nur Zorn vom Himmel die Folge sein. Das ist der Hintergrund, auf dem sich die vollständige Erlösung durch Blut zeigt und die unumschränkte Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht. Die Gnade gibt uns einen Platz bei dem zweiten Adam, dem Herrn aus dem Himmel. Und später wird Israel durch die Gnade gesegnet (Röm 9–11). Alles wird im Licht geklärt, wie Gott im Licht ist – seine ewige Erlösung und die „himmlischen Örter“. Am Ende wird im Friedensreich die Erde gesegnet. Wir aber sind Pilger und Fremdlinge. Doch kennen wir die Erlösung.

Bei Männern wie Abraham und David war es so, dass sie nichts von dem Verheißenen empfingen, was für sie an sich ein Rätsel sein musste. Aber da sie durch Offenbarung wussten, dass die Gerechten das Land erben und die Bösen gerichtet werden, wurde für sie dieses Rätsel gelöst.

In dem Buch Hiob, den Psalmen und dem Buch des Predigers, die die Empfindungen der Menschen unter dieser Ordnung der Dinge ausdrücken, wird diese Verwirrung, dieses Rätseln ganz offenkundig. Der Glaube mag darüber hinwegkommen und mag ausharren. Propheten mögen die Lösung des Problems bezeugen. Und der persönliche Glaube mag sich über die Schwierigkeit erheben. Doch eine gegenwärtige, feste und ewige Beziehung mit Gott dem Vater auf einem gänzlich neuen Boden, auf den wir durch die Erlösung, durch jenes kostbare Blut, gebracht worden sind – das war unbekannt.

In den poetischen Büchern ist vollbrachte Erlösung unbekannt

Vieles wurde zur Zeit des Alten Testaments gelernt in Bezug auf Gott, und dies war überaus wertvoll. Doch das tatsächliche Ergebnis der Wege Gottes für Hiob waren mehr Kamele und Schafe und hübschere Töchter. Das Ergebnis in den Psalmen war das Gericht über die Feinde und Befreiung durch seine immerwährende Güte sowie eine befreite Erde. Im Buch des Predigers geht es darum, dass man Gottes Regierung im Heute anerkennt. Der Mensch muss Gott fürchten und seine Gebote halten und die Sache dabei beruhen lassen muss. Eine gekannte Erlösung wird nirgends gefunden.

Was für einen gewaltigen Unterschied zu uns macht das aus! Von Christen heißt es: „Wie er ist, sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Der, der uns erlöst hat, ist zu seinem Vater und unserem Vater gegangen, zu seinem Gott und unserem Gott.

Wie ich schon gesagt habe, ist den Sprüchen und dem Lied Salomos ein anderer Charakter als Psalmen und Hiob eigen. Die Sprüche reden nicht von den Empfindungen des Menschen, sondern von der Führung Gottes in dieser Welt und den darin gemachten Erfahrungen. Das Lied der Lieder aber trägt das Herz ganz aus der Welt heraus, obwohl man noch darin ist. Aber das geschieht nicht, weil man die Erlösung kennt, sondern durch ergebene Liebe zu dem Messias, dem Bräutigam, die durch seine Liebe (zu Israel) hervorgerufen wird.

Diese innere Auseinandersetzung kennen wir auch, denn wir sind in der Welt – jedoch im Bewusstsein einer vollbrachten Erlösung und der gegenwärtigen Fürsorge eines heiligen Vaters. Und die Vollkommenheit seiner Wege, wie sie in Christus gesehen wird, ist das Muster für unser Verhalten. Wir können freudig den Raub unserer Güter annehmen, weil wir wissen, dass wir im Himmel ein besseres und beständiges Gut besitzen (Heb 10,34). Wir können uns auch der Trübsal rühmen, da sie ihren notwendigen Zweck erfüllt, und die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist (Röm 5). Dies ist ein anderer Fall, und zwar ein gesegneter.

Ich denke, dass uns diese allgemeinen Bemerkungen helfen werden, die Bücher zu verstehen, die uns jetzt beschäftigen werden.

Nach dem, was ich gesagt habe, wird das Buch Hiob keiner langen Betrachtung bedürfen, nicht, weil es nicht von Interesse ist, sondern weil, wenn man den allgemeinen Gedanken erfasst hat, es um Einzelheiten geht. Damit beschäftigen wir uns aber in dieser Auslegung nicht.

Der gerechte Hiob wird geprüft

Im Buch Hiob finden wir keine frohen Erlebnisse, sondern Erprobungen eines Menschen, der durch eine Welt geht, in der sich die Macht des Bösen befindet. Dieser Mensch ist nicht der Sünde gestorben und besitzt nicht die göttliche Erkenntnis, die durch das Evangelium kommt. So jemand kennt Christus in der Auferstehung sowie die vollkommene Liebe Gottes nicht, die die Furcht austreibt. Er kämpft aber mit dem Bösen oder damit, dass er das einzige wahre Gut nicht genießen kann, obwohl er es besitzen möchte. Was wir daraus lernen, ist das, was wir sind – es geht nicht um begangene Sünden. Das war nicht der Fall Hiobs, sondern die Seele selbst wird vor Gott gestellt.

Kapitel 1 und 2

Der Mensch wird auf die Probe gestellt

Im Buch Hiob wird der Mensch auf die Probe gestellt. Wir können mit unserer gegenwärtigen Erkenntnis sagen: Hiob war ein durch Gnade erneuerte Mensch, ein aufrichtiger Mensch und gerecht in seinen Wegen. Es sollte gezeigt werden, ob er in der Gegenwart der Macht des Bösen vor Gott stehen und vor Ihm gerecht sein kann. Andererseits zeigt uns Gott, wie Er vorgeht, um das Herz zu erforschen und um Hiob das Bewusstsein seines wahren Zustandes vor Ihm zu geben.

All das ist umso lehrreicher, da es uns unabhängig von jeglicher Haushaltung, von jeglicher besonderen Offenbarung vonseiten Gottes vor Augen gestellt wird. Es geht um den gottesfürchtigen Menschen, um einen Nachkommen Noahs, der die Erkenntnis des wahren Gottes nicht verloren hatte, als sich die Sünde wieder in der Welt verbreitete und der Götzendienst einsetzte. (Der Richter war aber da, um dies zu bestrafen!)

Satan als Instrument Gottes

Hiob war von Segnungen umringt und besaß wirkliche Frömmigkeit. Satan, der Verkläger der Knechte Gottes, wandelt auf der Erde umher, auf der Suche nach einer Gelegenheit zum Bösen. Er stellt sich vor den HERRN, inmitten seiner mächtigen Engel, den Söhnen Gottes. Gott weist auf Hiob hin, den Gott in seiner Regierung gesegnet hatte, weil er treu seinen Weg ging.

Es muss beachtet werden, dass der Ursprung aller dieser Handlungen nicht die Beschuldigungen Satans sind, sondern Gott selbst. Gott wusste, was sein Knecht Hiob benötigte, und Er selbst thematisiert seine Sache und setzt alles in Bewegung. Wenn Er den Satan fragt, ob er auf seinen Knecht Hiob achtgehabt habe, so tat Er das, weil Er selbst auf ihn achtgehabt hatte. Satan ist lediglich ein Werkzeug, ein unwissendes, wenn auch hinterlistiges, um den gnädigen Vorsatz Gottes zu vollbringen. Seine Beschuldigungen sind haltlos. Sie werden sich auch als unwahr erweisen. Satan darf bis zu einem gewissen Punkt tun, was er will. Das ist zum Wohl Hiobs. Denn so kann Hiob erkennen, was in seinem Herzen ist, und er kann zu einer tieferen Beziehung mit Gott gelangen. Die Wege Gottes sind gesegnet und vollkommen. Satans Anstrengungen gegen die, die Gott gehören, sind nichtig.

Gott rechtfertigt Hiob

Satan schreibt die Frömmigkeit Hiobs der offenbaren Gunst Gottes und seinem Wohlstand zu, der Tatsache, dass Gott ihn ringsum eingezäunt hatte. Gott übergibt das alles in die Hände Satans. Schnell erregt dieser die Begierde der Feinde Hiobs. Sie greifen ihn an und nehmen all sein Hab und Gut weg. Seine Kinder kommen durch einen Sturm ums Leben, den hervorzurufen dem Satan erlaubt wird. Hiob erwähnt jedoch weder Satan noch die Werkzeuge, die er verwendet. Er nimmt den bitteren Kelch aus der Hand Gottes selbst, ohne zu murren.

Satan spricht wieder den Gedanken aus, dass der Mensch tatsächlich alles geben wird, wenn er sich selbst bewahren kann. Gott überlässt Satan alles, ausgenommen das Leben seines Knechtes. Satan schlägt Hiob mit einer schrecklichen Krankheit. Hiob beugt sich aber unter die Hand Gottes, indem er seinen unumschränkten Willen völlig anerkennt. Satan hatte nun alle seine Mittel erschöpft, Hiob zu schädigen, und wir hören nichts mehr von ihm. Es ist aber schön, zu sehen, dass Gott durch diese Dinge Hiob vollständig von der Anklage Satans rechtfertigte. Hiob war kein Heuchler. Er hatte alles verloren, worauf Satan seine Frömmigkeit zurückführte, und sie leuchtete noch heller als je zuvor. Satan kann den im Fleisch wirkenden Beweggründen nachspüren sowie dem Bösen im Herzen des Menschen, das er hervorruft. Die Gnade in Gott aber, seine durch nichts verursachte Liebe und die Gnade im Menschen, der ihr vertraut und sich auf sie stützt, kann er weder ermessen noch deren Kraft erkennen.

Kapitel 3–31

Hiob kennt sein Herz und das Herz Gottes zu wenig

Aber die Tiefen des Herzens Hiobs waren noch nicht erreicht. Doch das zu tun war der Vorsatz Gottes, ungeachtet dessen, was Satan gedacht haben mochte. Hiob kannte sich selbst nicht. Und bei all seiner Frömmigkeit war er bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in der Gegenwart Gottes gewesen. Wie oft ist das der Fall, dass selbst während eines langen gottseligen Lebens das Gewissen niemals wirklich vor Gott gestellt worden ist! Deshalb sind ein Friede, der nicht erschüttert werden kann, und wirkliche Freiheit noch unbekannt. Es ist ein Verlangen nach Gott da, die neue Natur ist vorhanden und man hat die Anziehungskraft seiner Gnade gespürt. Dennoch kennt man Gott und seine Liebe nicht wirklich. Wenn Satans Werk auch vereitelt wurde, indem Gott das Herz Hiobs vor dem Murren bewahrt hatte, so hatte Gott noch sein eigenes Werk zu vollbringen.

Das, was der von Satan entfesselte Sturm nicht zu tun vermochte, wird durch das Mitgefühl seiner Freunde zustande gebracht. Armes Menschenherz! Die Rechtschaffenheit Hiobs und sogar seine Geduld waren bewiesen, und Satan hatte nichts mehr zu sagen. Gott allein kann aber erforschen, wie das Herz wirklich vor Ihm steht. Keinen Eigenwillen zu haben, völlig mit dem Willen Gottes übereinzustimmen und sich absolut unterzuordnen, wie Christus es getan hat – dies alles konnte Gott allein erproben. Und auf diese Weise wurde die Nichtigkeit des Menschenherzens vor Ihm bloßgestellt. Gott tat dies mit Hiob. Gleichzeitig offenbarte Er, dass Er in solchen Fällen in Gnade zum Wohl der von Ihm geliebten Seele handelt.

Hiobs Selbstzufriedenheit

Wenn wir die Sprache des Geistes Christi in den Psalmen vergleichen, so werden wir finden, dass die Umstände beinahe mit denselben Worten beschrieben werden. Aber anstatt bitterer Klagen und an Gott gerichteter Vorwürfe finden wir dort die Unterordnung eines Herzens, das anerkennt, dass Gott in allen seinen Wegen vollkommen ist. Hiob war rechtschaffen, aber er begann, dies zu seiner Gerechtigkeit zu machen, was beweist, dass er niemals wirklich in der Gegenwart Gottes gewesen war. Die Folge davon war, dass er Gott Ungerechtigkeit und den Wunsch zuschrieb, ihn ohne Ursache zu bedrängen (siehe Hiob 19 und Hiob 23,3.13; 13,15–18; 16,12). Das tat er, obwohl er besser als seine Freunde urteilte und ein Herz zeigte, das viel mehr als sie empfand, wer Gott ist.

Wir finden in Kapitel 29 auch, dass er selbstgefällig an sein rechtschaffenes und wohltätiges Verhalten dachte und sich selbst lobte und damit seine Selbstliebe nährte. „Wenn das Auge mich sah, so legte es Zeugnis von mir ab“ (Hiob 29,11). Gott führte ihn aber später dazu, zu sagen: „Nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich“ (Hiob 42,3).

Mit den Kapiteln 29 bis 31, die seine gute Meinung über sich selbst ausdrücken, beendet Hiob seine Rede. Er hatte sein ganzes Herz ausgegossen. Er war mit sich selbst zufrieden. Die Gnade Gottes hatte in ihm gewirkt, und zwar in einer wunderbaren Weise. Doch die gegenwärtige Wirkung der Gnade war nur, dass Hiob schön in seinen eigenen Augen war. Das geschah durch die Treulosigkeit des Menschenherzens und weil Hiob nicht in der Gegenwart Gottes war, wo man die Gnade entdeckt.

Wenn Hiob in Kapitel 9 die Ungerechtigkeit des Menschen bekennt (denn wer kann sie abstreiten, insbesondere welcher bekehrte Mensch?), so geschieht das in Bitterkeit des Gemüts. Denn Hiob meint, dass es nichts nützt, zu versuchen, bei solch einem Gott gerecht zu sein.

Kapitel 6 sowie auch seine ganze Rede beweisen den Hochmut seines Herzens, das es anscheinend nicht ertragen konnte, von denen, die seine Größe gekannt hatten, in so einem Zustand gesehen zu werden, in einem Zustand, den der Hochmut schon aus Hartnäckigkeit allein ertragen hätte. Oder konnte er das Mitgefühl nicht aushalten, das den Stolz schwächte und ihn dem vollen Bewusstsein seines Zustandes preisgab? Jedenfalls waren die Anwesenheit und die Rede seiner Freunde das Mittel, alles an den Tag zu bringen, was in seinem Herzen war. Wir sehen auch in Kapitel 30, dass der Hochmut seines Herzens entdeckt wurde.

Die Freunde Hiobs – ihre Unwissenheit

Was die Freunde Hiobs anbetrifft, so bedürfen sie keiner ausführlichen Bemerkungen. Sie bestehen auf der Lehre, dass die irdische Regierung Gottes seine Gerechtigkeit völlig kundmacht, wie auch der Gerechtigkeit des Menschen, die ihr entsprechen sollte. Diese Lehre beweist eine völlige Unkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit Gottes und seiner Wege. Es fehlt auch die wahre Erkenntnis darüber, was Gott ist oder was der Mensch als Sünder ist. Wir sehen auch nicht, dass die Empfindungen ihrer Herzen durch Gemeinschaft mit Gott beeinflusst waren. Ihre Erörterung ist eine falsche und kalte Einschätzung der Gerechtigkeit seiner Regierung, wie sie sich in der Beziehung zum Menschen erweist.[1] Dennoch sagen sie auch viele wahre alltägliche Dinge, die sogar der Geist Gottes für richtig annimmt (vgl. 1. Kor 3,19).

Obwohl Hiob in der Wertschätzung seiner selbst nicht vor Gott stand, so urteilt er in dieser Hinsicht richtig. Er zeigt, dass Gott zwar seinen Unmut über die Bösen zeigt, dass aber die guten Umstände, in denen sich diese oft befinden, die Beweisführung seiner Freunde umwirft. (Das Böse wird eben nicht immer sofort bestraft.) In Hiob sehen wir ein Herz, das, obwohl es voller Empörung ist, sich auf Gott verlässt und sich freuen würde, Ihn zu finden. Wir sehen auch, dass er sich durch einige wenige Worte von seinen Freunden losreißen kann, die, wie er genau empfindet, nichts von seinem Fall verstehen noch von dem Handeln Gottes. Er wendet sich daher in seinen Reden an Gott, obwohl er Ihn nicht findet und obwohl er klagt, dass Gottes Hand schwer auf ihm laste. Das sehen wir in dem schönen und ergreifenden Kapitel 23 und in seinen Erörterungen der göttlichen Regierung in den Kapiteln 24 und 21. Das zeigt, dass wir jemand sehen, der geschmeckt hat, dass Gott gnädig ist. Sein Herz, obwohl verwundet und ernüchtert, nimmt die Eigenschaften Gottes für sich in Anspruch, weil er Ihn kennt. Diese Eigenschaften konnten die kalten Überlegungen seiner Freunde Ihm nicht zuschreiben. Hiobs Herz beklagt sich bitter über Gott; es weiß aber, dass, wenn er Ihn finden könnte, Gott so sei, wie er gesagt hatte, und nicht so, wie die Freunde von Ihm gesprochen hatten oder wie sie selbst waren. Wenn er Ihn finden könnte, würde er nicht sein wie sie. Hiob wies empört den Vorwurf der Heuchelei zurück. Denn Hiob war sich bewusst, dass er zu Gott aufschaute und dass er Gott gekannt und in Beziehung zu Ihm gehandelt hatte, obwohl Gott es für richtig hielt, seiner Sünde zu gedenken. Obwohl Hiob so geistlich war, verhinderte das nicht, dass er das Bewusstsein von seiner Redlichkeit zu einem Mantel der Selbstgerechtigkeit machte. Dieser Mantel verbarg Gott vor ihm und sogar ihn selbst vor sich. Hiob behauptet, er wäre gerechter als Gott (Hiob 10,7. 8; 16,14–17; 23, 11–13; 27, 2–6).

Kapitel 32–37

Elihu: Tadel für Hiobs Selbstgerechtigkeit

Elihu tadelt Hiob deswegen, und andererseits erklärt er die Wege Gottes. Er zeigt, dass Gott den Menschen heimsucht und ihn züchtigt, damit Er in Gnade und Segnung mit ihm handeln und ihm von allem Übel befreien kann – wenn der Mensch untergeordnet und zerbrochen ist. Dabei sollte jemand da sein, der ihm den moralischen Berührungspunkt zwischen seiner Seele und Gott zeigen kann, auf dem seine Seele wahrhaftig vor Gott stehen kann.[2]

Elihu zeigt ihm weiter, dass es sich für den Menschen gehört, wenn er von Gott gezüchtigt wird, sich vor Gott zu stellen, um zu erfahren, worin er Böses getan hat (vgl. Hiob 34,12). Er soll erkennen, dass die Wege Gottes richtig sind, dass Er seine Augen von den Gerechten nicht abzieht (Hiob 36,7). Wenn sie aber in Bedrängnis sind, macht Er ihnen ihre Übertretung kund. Und wenn sie zu Ihm in Gehorsam zurückkehren, wenn Er ihr Ohr der Zucht öffnet, wird Er ihnen Wohlergehen schenken; der Heuchler aber wird umkommen.

Der erste Fall, den Elihu erwähnt (Hiob 33), betrifft das Verfahren Gottes mit den Menschen. Er weckt ihr Gewissen in Bezug auf ihren Zustand auf, und Er zügelt den Stolz und den Eigenwillen des Menschen. Gott züchtigt und demütigt ihn. Der zweite Fall betrifft insbesondere den Gerechten (Hiob 36). Das ist der Fall der wirklichen Übertretung, und zwar bei einem, der in den Augen Gottes gerecht ist, von dem Er seine Augen nicht abzieht und in dem Er keine Ungerechtigkeit zulässt. Im ersten Fall steht der Mensch aber auf dem Pfad zum Verderben. Es war dieser Fall, der eines Auslegers bedurfte, um ihn in Geradheit vor Gott zu stellen. [3] Zum Schluss besteht Elihu auf der unfassbaren Kraft Gottes, des Allmächtigen (Hiob 37).

Kapitel 38–42

Gott selbst redet

Dann redet der HERR, und indem Er sich an Hiob wendet, setzt Er das Thema fort. Er lässt Hiob seine Nichtigkeit erkennen. Hiob bekennt, dass er gering ist, und tut kund, dass er vor Gott schweigen wird. Der HERR setzt seine Rede fort, und Hiob gibt zu, dass er ohne Erkenntnis den Rat verhüllte, indem er beurteilte, was er nicht verstand. Noch unterwürfiger, bekennt er jetzt offen seinen wirklichen Zustand. Früher hatte er mit dem Gehör des Ohres von Gott gehört; jetzt hatte sein Auge Ihn gesehen. Deshalb verabscheute er sich selbst und bereute in Staub und Asche (Hiob 42,5.6). Dies ist die Wirkung davon, dass man Gott gesehen und selbst in seine Gegenwart gekommen ist. Das Werk Gottes war erfüllt – das Werk seiner vollkommenen Güte. Diese Güte wollte Hiob nicht ohne Selbsterkenntnis lassen und sie wollte ihn vor das Angesicht Gottes bringen. Das Ziel der Zucht war erreicht, und Hiob wird mit mehr Segnungen umgeben als zuvor.

Lektionen aus dem Buch Hiob

Im Buch Hiob lernen wir zweierlei: erstens, dass der Mensch vor dem Angesicht Gottes nicht bestehen kann, und zweitens sehen wir die Wege Gottes zur Unterweisung des inneren Menschen.

Hiob ist auch ein Bild davon, wie Gott mit den Juden auf der Erden verfährt.

Die Rolle Satans 

Das Buch Hiob zeigt ferner deutlich die Belehrung des Geistes im Blick auf die Rolle Satans, die er in Gottes Vorsehung und Regierung in Bezug auf den Menschen innehat. Wir können uns auch die vollkommene und treue Fürsorge Gottes merken, von der (ungeachtet der Bosheit Satans) all das ausging, weil Er wusste, dass Hiob das benötigte. Wir bemerken, dass es Gott ist, der den Fall Hiobs Satan vorstellt, und dass Satan (in Hiob 2) von dem Schauplatz verschwindet. Denn es geht um sein Tun auf der Erde, nicht um seine inneren Versuchungen.

Hiobs Herz offenbart

Ferner: Wenn Gott die äußere Bedrängnis verkürzt hätte, hätte Hiob erneut Ursache für Selbstgefälligkeit gehabt. Ein verkürztes Ungemach genügte nicht, wie der Mensch denken könnte. Das Übel im Herzen Hiobs bestand darin, dass er auf den Früchten der Gnade in sich selbst ruhte. Und wenn das Leid abgekürzt worden wäre, hätte das die gute Meinung von sich, die er ja hatte, nur noch gesteigert. Er, der gütig im Wohlergehen war, wäre er auch geduldig im Elend gewesen. Deshalb führt Gott sein Werk fort, damit Hiob sich selbst erkennen konnte.

Wir sehen, dass Hiob außer Fassung gerät und den Tag seiner Geburt verflucht (Hiob 3). Dies geschah durch das Mitgefühl seiner Freunde. Denn wir können das Leid allein oder vor Gott als vor seinem Angesicht stehend ertragen. Was wir aber nicht ertragen können, wenn wir die Gelegenheit haben, unsere Klage vor den Menschen zu bringen. Oder es geschieht durch den Hochmut, der nicht erregt wird, wenn wir allein sind, der aber verletzt wird, wenn andere Zeugen unseres Elends sind. Oder vielleicht durch beides zusammen. Jetzt sind die Tiefen seines Herzens sind offenbar. Dies war es, was er benötigte.

Zusammenfassung

Also haben wir den Menschen zwischen Satan, dem Verkläger, und Gott stehen. Und es geht hier nicht um die Offenbarung der ewigen Gerechtigkeit Gottes, sondern um seine Wege mit der Seele des Menschen in dieser Welt. Der gottesfürchtige Mensch kommt in Trübsal. Dies muss erklärt werden, und die Freunde bestehen darauf, dass diese Welt ein angemessener Ausdruck der gerechten Regierung Gottes ist. Deshalb muss Hiob, der sich sehr über seine Frömmigkeit verbreitet hatte, ein Heuchler sein. Hiob weist das entschieden zurück. Sein Eigenwille ist aber ungebrochen und erhebt sich gegen Gott. Es war Gottes Wille, ihm so zu tun, und er kann nichts daran ändern. Er ist nur sicher, dass, wenn er Ihn finden könnte, Er ihm Worte in den Mund legen würde. Obwohl er sich empörte, redete er gut von Ihm, und er dachte an seine Güte, als besitze er sie. Er behauptet, dass, obwohl es eine gerechte Regierung gibt, diese Welt sie nicht zum Ausdruck bringt, wie seine Freunde sagten. Er bricht aber vor Gott nicht zusammen. Da schaltet sich Elihu ein, der Ausleger, einer aus tausend (und wie selten sind sie!), und er erklärt die Zucht Gottes dem Menschen und dem Gerechten gegenüber, und er tadelt beide Seiten mit Einsicht. Dann greift Gott ein und weist Hiob durch die Offenbarung seiner selbst an seinen Platz. Er erkennt aber die rechten Empfindungen Hiobs in Bezug auf sich an und weist die Freunde an ihren wahren Platz; und Hiob soll sich für sie einsetzen. So gedemütigt, kann Hiob völlig gesegnet werden. In den Augen Gottes ist diese Selbsterkenntnis äußerst wichtig; bis dahin sind wir niemals demütig noch ohne Selbstvertrauen.

Wichtiger Hinweis: 

Die Synopsis von John Nelson Darby hat über Generationen hinweg vielen Gläubigen sehr geholfen, die Bibel besser zu verstehen. Allerdings ist die Synopsis schwierig zu verstehen, wozu insbesondere verschachtelte Sätze beitragen. Hinzu kommt, dass die deutsche Übersetzung alt und manchmal auch etwas unbeholfen ist. In dieser Bearbeitung wurde der Text auf Verständlichkeit getrimmt, was manchmal auch zu Hinzufügungen und manchmal zu Weglassungen geführt hat. Im Vergleich zum Original können Nuancen durchaus anders sein. Dennoch denken und hoffen wir, dass auf diese Weise die nützlichen und tiefgründigen Gedanken von Darby für ein breites Publikum zugänglich werden. Die Überarbeitung erfolgte durch Gerrid Setzer. Hier ist der Link zur Original-Synopsis: Hiob

Feedback zu dieser Arbeit ist ausdrücklich erwünscht!


Fußnoten:

  1. Sie glauben, dass es dem Sünder schlecht gehen und dem Gerechten gut gehen müsse.
  2. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Gott kann auf direkte Weise mit dem Licht seiner Gnade segnen, wenn die Seele an ihren wahren Platz gebracht wird, zu dem, was sie in Gottes Augen wirklich ist. Dann kann Er sie, wie auch immer ihr Zustand sein mag, mit mehr Licht und Gnade segnen. Wenn ich mich weit von Ihm entfernt habe und unachtsam gehe, kann Er, wenn ich das Bewusstsein bekomme, wie weit weg ich bin, vollständig und direkt segnen. Aber die Seele muss zur Erkenntnis ihres Zustandes gebracht werden, sonst kann es keinen wirklichen Segen geben. Sonst ist die Seele nicht im Einklang mit Gott. Denn der empfundene Zustand entspräche nicht dem wirklichen Zustand vor Gott.
  3. In diesem Fall mag es eine erste Überführung von der Sünde sein oder die erste Selbsterkenntnis, und zwar da, wo noch kein wahres Selbstgericht stattgefunden hatte, wie es bei Hiob der Fall war.